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Entdeckungsreisen ins Wunderland der Kunst

Der Künstler Maarten Thiel

 

„Für Besucher sind Ateliers aufschlussreicher als Museen“, schreibt Maarten Thiel in seinen Aufzeichnungen „Tagaus – tagein“. Darin erinnert er sich, schon als Schüler in Amsterdam bei Atelierbesuchen in den Mappen und Skizzenbüchern der Künstler gestöbert und in Arbeit befindliche Werke studiert zu haben, um Arbeitsprozesse besser erkennen und verstehen zu können.

Maarten Thiels Kasseler Atelierwohnung liegt am schattigen Fuldaufer nahe der Drahtbrücke, und Besuch empfängt auch er gerne und mit höflicher Zuvorkommenheit. Selbst an heißen Tagen ist es hier kühl und luftig. Hell und aufgeräumt sowohl das große Atelier, wo vorwiegend gedruckt wird, als auch das kleine, das von einer Staffelei in der Mitte beherrscht ist. Hier und da auf dem Boden, in einer Ecke, erst auf den zweiten Blick wahrnehmbar, Kieselsteine, Muscheln, Schneckenhäuser – Fundstücke, die an Strand und Meer erinnern.

 

Maarten Thiel sagt: „Eigentlich bin ich wieder da gelandet, wo ich in den 60er Jahren angefangen habe, bei der abstrakten Malerei.“ Dazwischen liegen Serien, da er Geometrisches mit realistischen Apercus aus Faune und Flora mischte, Objekte erfand, wo Gras und Moor in Vitrinen und aus Schubladen wuchs, Perioden, da er intensivfarbige Kunst am Bau produzierte (am spektakulärsten an der Justizvollzugsanstalt Wehlheiden II) oder Collagen und Frottagen in seine Bilder einarbeitete. Immer entwickelte er eine Freude am Erfinden neuer Techniken.

 

Heute ist der 1945 in Amsterdam geborene Thiel nach Jahren, in denen er Kunst studierte, eine Malerlehre absolvierte, selber Kunst an Schule und Hochschule unterrichtete und sich immer wieder in den Kunstbetrieb einmischte (beispielsweise initiierte und organisierte er in den 70er Jahren den Kasseler Kunstmarkt) am Ende seiner Lehr – und Wanderjahre angelangt. Jede Station in seinem Leben war ihm für seine künstlerische Entwicklung wichtig. Während Maarten Thiel erzählt, zieht er – die kleine Pause im konzentrierten Redefluss auskostend – tief an seiner Pfeife. Zwischendurch kann das Telefon läuten oder die Türglocke schellen – nach jeder Unterbrechung nimmt er seinen Gedanken genau dort wieder auf, wo er ihn unterbrochen hat.

 

„Ich bin pingelig“, sagt Thiel über seine Arbeitsweise, „husch husch, das liegt mir nicht.“ Immer beschäftigt er sich über einen längeren Zeitraum mit mehreren Bildern gleichzeitig, Ruhe, Reflexion, Sammlung zählen zu seinen Prinzipien. Vor diesem Hintergrund könnte seine Arbeitsweise allerdings falsch verstanden werden, denn einen konzeptuellen Charakter haben bestenfalls seine Skulpturen, Objekte und dreidimensionalen Arbeiten, jedoch die wenigsten seiner Bilder.

 

„Die weiße Fläche ist ein Projektionsfeld für Gedankenspiele“, beschreibt Thiel sein assoziatives, nie geplantes Sich-Nähern an Farbe und Form. „Alles oder nichts ist möglich. Der erste Strich, der erste Farbtupfer löst Folgeerscheinungen aus.“ Zum Beweis hält er zwei seiner jüngsten, kleinformatigen Arbeiten  in den Händen. Die eine wiegt deutlich schwerer unter dem Gewicht vieler, kaum mehr identifizierbarer Acryl-Farbschichten. Er hebt eine weitere, auf den ersten Blick vollendete Arbeit hoch. Da „kracht“ noch etwas, so der Künstler, stört etwas Undefinierbares sein Harmonieempfinden. Wie es einmal fertig aussehen wird? Schulterzucken. Man wird sehen. „Ich bin selber immer erstaunt, was passiert, wenn ich mit Malen beginne“, sagt Maarten Thiel, und dieses Staunen über Dinge, dieses Verzaubertsein vom Alltäglichen, um es dann auf seinen Bildern zu bannen, das würde er am liebsten noch steigern. Er sagt: „Ich hätte mir gern die Neugier eines Kindes bewahrt.“

 

Farbe hat bei Thiel die Qualität einer Aura. Sein Blau strahlt, sein Weiß vibriert, sein Gelb zuckt. Waren auf seinen Bildern der 80er Jahre die feinen Strukturen von Gräsern, Schmetterlingsflügeln, Ahornsamen und Ginko-Blättern präsent, so ist heute als strukturelles Element das Ankratzen der Oberfläche geblieben. „Ich arbeite wie ein Archäologe“, beschreibt Thiel seine Entdeckungsreisen in das Wunderland der eigenen Kunst, „nur umgekehrt, von unten nach oben. Das, was mich interessiert, ist das verborgene Wesen der Kunst.“

Christina Hein

"Kassel Kulturell" 1. Dezember 1994